Rainer Maria Rilke / Lou Andreas-Salomé.

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unter Umstanden sogar ein Wort anwendbar wtirde wie „Laster“ und „Ausschweifung“. DaB uns das zu fremdartig klingt, daB wir darunter lediglich geist- und gemiitlose Verschleuderungen verstehen, die uns moralistisch ins Unrecht setzen,beweist lediglich, aus einer wie groBen Instinktunsicherheit wir leben, wie wenig beraten von unserer eigenen Lebendigkeit. Allerdings gibt es auch noch ein anderes Verhalten zu diesen Dingen, das hier nicht beriicksichtigt wor- den ist. Das findet man weit hinter aller Kunst und • • den komplizierteren AuBerungsformen der Phantasie: in der Tatsache selbst, daB ein jeder unter uns, von seinem primitivsten bis zum gesteigertesten Erleben, von seinen wachsten Gedanken bis zu den vertraum- testen seiner Nachte, eine Phantasie-Existenz fiihrt. Sogar je weiter ab vom kontrollierenden BewuBtsein, je eingetauchter in das, was uns aus dem seelischen Dunkel uberkommt, desto mehr, konnen wir uns die • • Uberzeugung holen vom Poeten in uns, vom Poeten in jedermann. Der, freilich, laBt sich nicht aus dem Mittelpunkt seiner Wirksamkeit verjagen, der duckt sich nur noch dunkler, wenn man an ihn heran will, und birgt sich nur um so wirkungsvoller im Heimlichen seines Tuns. Zwischen dem Verstand, zu dem wir uns mit Recht immer klarer erziehen, und dem, wor- auf die verstandlosen Lebewesen unmittelbar beruhen, laBt er allein seine Briicken nicht einstiirzen, und auch